Das Erbe der Seher (1) – Das Echo der Zukunft (2) – Die Schatten der Zeit (3).
High-Fantasy-Trilogie von James Islington.
Schon mal vorneweg: "Die Schatten der Zeit* erscheinen erst im Dezember 2022 auf Deutsch. Ich wollte nicht warten und habe den dritten Teil auf Englisch gelesen.
Meine Ungeduld lässt wohl vermuten, dass mich die Licanius Trilogie absolut begeistert hat. Um es mir gleich zu tun, empfehle ich jedoch gute Englischkenntnisse, denn schon auf Deutsch haben mich die ersten beiden Bücher gefordert.
Hier haben wir es nämlich nicht mit irgendeiner unterhaltsamen Fantasygeschichte zu tun, die man so leicht nebenbei lesen kann. Der Plot ist so vielschichtig und raffiniert, dass er mich mehrmals dazu gebracht hat, gewisse Kapitel – oh ja, Mehrzahl! – wiederholt zu lesen. Was Islington hier rausgehauen hat, hat mich umgehauen.
Hier geht es um Magier, Unsterblichkeit, Zeitreisen, Gestaltwandler, Religion, den schmalen Grat zwischen Freund- und Feindschaften, Verantwortung, verlorene Erinnerungen, Schuld und die absolute Zerstörung der Welt – und noch viel mehr. Kein Wunder hat Islington das Ganze in drei fette Wälzer packen müssen. Ein Erzählstrang aus dem dritten Buch hat er sich für ein separates Buch herausgenommen, da es sonst den Rahmen definitiv gesprengt hätte.
Aber beginnen wir doch von vorn.
Teil 1: Das Erbe der Seher – der Klappentext:
In Feuer und Blut endete vor 20 Jahren die Herrschaft der Auguren, mächtige Magier mit seherischen Fähigkeiten. Jene, die ihnen dienten – die Begabten – wurden nur verschont, weil sie sich dem rigiden neuen Gesetz unterworfen haben, das ihre Macht beschränkt.
Der junge Begabte Davian und seine Freunde wachsen in einer Welt auf, die sie verachtet und strengstens überwacht. Doch als Davian herausfindet, dass er über die bei Todesstrafe verbotene Magie der Seher verfügt, setzt er eine Kette von Ereignissen in Gang, die alles für immer verändern werden.
Denn im Norden regt sich ein Feind, den man zu lange besiegt glaubte …
Das hörte sich für mich vielversprechend genug an, um mich in dieses Fantasyepos zu stürzen. Wie ich bin, war ich am Anfang sehr skeptisch. Denn es beginnt klassisch. Drei Freunde in einer Art Internat, Tol Athian genannt, leben ihr Leben. Davian steht vor einer Prüfung, von der er jetzt schon weiß, dass er sie nicht bestehen wird. In der Nacht vor der Prüfung erscheint ein Ältester und schickt ihn auf eine Reise. Als sich dann sein bester Freund Werr ihm anschließt, scheint das Klischee perfekt zu sein.
Doch dann beginnt das Abenteuer erst richtig. Islingtons Fantasie ist atemberaubend und so detailliert, dass ich mir oft einen Glossar gewünscht hätte. Dass es im eBook keine Karte gibt, hat mich weniger gestört, aber eine Übersicht über die unzähligen Figuren wäre hilfreich gewesen.
Allerdings möchte ich an dieser Stelle einfügen, dass es auf James Islington's Website all das gibt. Aber dazu später mehr.
Obwohl man als Leser am Anfang doch ziemlich im Dunkeln tappt, versteht es Islington immer wieder, ganz langsam die Informationen von Kapitel zu Kapitel zusammenzuweben. Aber selbst dann ist es für den Leser noch nicht immer leicht, das große Ganze zu begreifen.
Ich hatte mich schon damit abgefunden, mich nach dem ersten Teil auf ein anderes Buch zu stürzen, doch im letzten Kapitel und im Epilog reisst Islington das Ruder nochmals so sehr herum, dass es unmöglich war, die Licanius-Saga wegzulegen.
Man hat es ja geahnt, dass die Figur, die absolut keine Erinnerung an ihr vorheriges Leben hatte, eine Schlüsselrolle spielt, aber die Informationen, die da plötzlich zum Vorschein treten, steigern die Spannung ins Unermessliche. Nur schon deshalb hat es sich gelohnt, bis zum Ende zu lesen.
Teil 2: Das Echo der Zukunft
Den Klappentext spare ich mir hier, um nicht zu spoilern.
Schon sehr schnell war klar: Teil 1 war lediglich der Startschuss, um die Geschichte ins Rollen zu bringen und die Figuren vorzustellen. Natürlich birgt Teil 1 einen in sich abgeschlossenen Handlungsstrang, aber so richtig zur Sache geht es erst in Teil 2.
Islingtons Schreibstil ist so flüssig, dass man nur so durch die Seiten fliegt. Aber auch hier sei gesagt: Man muss bei der Sache sein. So groß das Lesevergnügen auch ist, die Licanius-Saga eignet sich nicht, um so nebenher gelesen zu werden.
Um zu verdeutlichen, in was für einem Konstrukt wir uns bewegen: Es geht um verlorene Erinnerungen, die über Tausende von Jahren zurückreichen und keineswegs chronologisch aufgedeckt werden. Zudem sind Zeitreisen möglich. Und die Magier haben zu allem hin auch noch die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen. Dadurch, dass sich die Ereignisse über Tausende von Jahren ziehen, werden Völker, Länder oder auch Personen nicht immer gleich benannt – was auch durchaus realistisch ist.
Glücklicherweise gibt es im zweiten Teil eine Zusammenfassung vom ersten Teil, einen Glossar sowie ein Figurenregister. Alles zusammen nimmt mehrere Seiten ein. Daraufhin habe ich dann auch noch die Karte auf Islingtons Website entdeckt. Sie ist hübsch und stellt das Land Andarra überraschenderweise genau so dar, wie ich es mir ohne Karte vorgestellt habe.
Im Nachhinein finde ich, macht es Sinn, das das Figurenregister und der Glossar erst in Teil 2 drin sind. Auf diese Weise wird die Gefahr von Spoilern eindeutig dezimiert.
Teil 3: Die Schatten der Zeit
Ein bisschen habe ich mich davor gefürchtet, den dritten Teil auf Englisch zu lesen, aber es hat besser geklappt, als erwartet. Dennoch, gute Kenntnisse sind Voraussetzung. Dem dritten Teil gehen drei Zusammenfassungen voran, die dem Leser helfen, sich in der Geschichte zu orientieren.
Mit der im zweiten Teil aufgedeckten Vergangenheit einer der Hauptfiguren schreitet die Geschichte weiter voran. Nur langsam werden offene Fragen beantwortet und ich fragte mich in der Mitte, ob es Islington wohl tatsächlich gelingen würde, alle Handlungsstränge auf den letzten vierhundert Seiten zusammenzuführen und alle Fragen zu beantworten.
Allerdings muss ich zugeben, ich hätte es nicht geschafft, alle offenen Fragen und Unklarheiten aufzulisten, so verworren wie die Geschichte mittlerweile war.
Meine Versuche, an manchen Stellen die Handlungsstränge selbst zusammenzuführen, scheiterten kläglich. Und auch hier ertappte ich mich dabei, wie ich ein Buch zurückging, um mir dort den Epilog nochmal zu vergegenwärtigen.
Umso überraschter war ich, als mir bereits vor dem eigentlichen Ende klar war, wie es enden würde. Aber das war absolut in Ordnung, ja fühlte sich nach den ganzen Verwirrungen sogar wie eine Erleichterung an, doch nicht so sehr den Durchblick verloren zu haben, wie ich geglaubt hatte.
Jedenfalls: Ich mochte das Ende sehr.
Islington hat sich Zeit genommen, um die Geschichte für jede Figur zu einem wunderbaren Abschluss zu führen. Es ist tragisch und versöhnlich zugleich. Und es lässt den Leser nicht mit offenen Fragen zurück. Ein Kreis wird auf so wunderbare Weise geschlossen, wie ich es schon lange nicht mehr in Büchern gesehen habe.
Und was gibt es auszusetzen?
Leider hatte ich manchmal den Eindruck, dass die Figuren ein bisschen zu blass waren. Ich wusste zwar immer, wer gerade spricht, und auch äußerlich waren sich alle verschieden, aber dennoch schienen sie mir manchmal alle gleich. Hier eine Marotte und dort ein paar Charakterfehler hätten gut getan und den Figuren mehr Tiefe verliehen. Auch hätte ich es nicht schlecht gefunden, ab und zu mal an die Physiognomie der Figuren erinnert zu werden – schließlich ändern da gewisse Charaktere über die Bücher ihr Aussehen.
Da es ein sehr ambitiöses Projekt ist, hätte ich mir doch gern mehr Reminder gewünscht. Nach mehreren Kapitel hat man vergessen, wer die Person war, die damals kurz erschienen ist, um ... was zu tun? Was wollte sie schon wieder? War das nicht der andere? Und wer war denn dieser dort? Das war manchmal echt sehr verwirrend.
Zudem gab es ein paar Begriffe, zu denen ich gern etwas mehr Ausführung gehabt hätte. Wie z.B. das oben erwähnte Tol Athian. Es gibt auch ein Tol Shen. Das sind ... Häuser?, in denen die Begabten leben. Oder eher Burganlagen? Abgeschlossene Bereiche? Der Glossar nennt es "Außenposten". Aber selbst das ist irgendwie vage.
Trotz allem war ich begeistert und zolle James Islington voller Demut meinen Respekt. Für mich definitiv eine Leseempfehlung für alle, die raffinierte Plots und anspruchsvolle Geschichten lieben.
(mcl)
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